So viel Wahnsinn muss sein - Jiang Wen bei der Berlinale

11.02.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Jiang Wen (l.) in Let the Bullets Fly
Berlinale/Emperor Motion Pictures
Jiang Wen (l.) in Let the Bullets Fly
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Mit dem Gangster-Musical Gone with the Bullets feiert der chinesische Regisseur und Schauspieler Jiang Wen seinen Einstand im Berlinale-Wettbewerb. Wir blicken auf seine bisherigen Filme.

"Change has wiped out my memories. I can't tell what's imagined from what's real." -
In the Heat of the Sun

"Wahnsinn", "Traum", "Gewehr" und "Liebe" lauten die inoffiziellen Kapiteltitel in Jiang Wens Episodenfilm The Sun Also Rises. Die vier Schlagwörter bieten Neulingen im Werk des chinesischen Schauspielers und Regisseurs allerdings auch eine praktische Hilfestellung, um die eigenen Erwartungen in Stellung zu bringen. Sein Gangster-Musical-Melodram Gone with the Bullets läuft als erster Film von Jiang im Wettbewerb der Berlinale.

In der Hitze der Nostalgie
Schon in seinem autobiografisch gefärbten Regiedebüt In the Heat of the Sun spielte Jiang Wen mit den Tücken der Erinnerung. Haben wir da seine Erlebnisse in der Zeit der chinesischen Kulturrevolution vor uns, in der sein junges Film-Alter-Ego in ungekannter Freiheit auf der Schwelle zum Erwachsenwerden tritt? Oder die geschickte Manipulation von Erinnerungsfetzen und Träumen, ein Film über die nostalgische Verklärung einer Epoche? Seit diesem Erstling 1994 hat Jiang Wen neben seiner erfolgreichen Karriere als Schauspieler vier Filme als Regisseur gedreht. Mit jedem von diesem hat diese Vieldeutigkeit an Raffiniertheit gewonnen. Bisweilen scheffelt er einen chaotischen Wust von Metaphern, der ungemein forsch und sinnlich in Szene gesetzt wird. Farbenpracht, eingefangen durch eine nachgerade entfesselte Kamera, und musikalische Hymnen bilden die Phalanx. Verführung und Kapitulation liegen hier sehr nah bei einander. Sein jüngstes Film-Doppel Let the Bullets Fly - Tödliche Kugeln und Gone with the Bullets bildet den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung. Ersterer, ein Warlord-Western im Screwball-Tempo, brach 2010 die Kassenrekorde in China, vielleicht weil er als Satire der kommunistischen Kader unter Mao gelesen werden kann. Oder der korrupten Bürokratie von heute. Gone with the Bullets, eine Fortsetzung im Geiste, stürmte kürzlich ebenfalls an die Spitze der chinesischen Kino-Charts. Wie alle seine Regiearbeiten spielt auch der Berlinale-Beitrag in der chinesischen Geschichte, diesmal dem Shanghai der 20er Jahre.

Bekanntheit erlangte der 1963 geborene Jiang Wen zunächst durch Hauptrollen in Hibiscus Town von Xie Jin und Rotes Kornfeld von Zhang Yimou, die beide 1986 erschienen. Das Chaos der Kulturrevolution beherrscht den einen, die Gräuel der japanischen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs den anderen Film, beides Themen, die Jiang Wen in seinen eigenen Regiearbeiten aufgreifen sollte. Seine international wohl bekannteste ist Devils on the Doorstep aus dem Jahr 2000. Darin werden dem chinesischen Farmer Ma (Jiang) eines Nachts ein japanischer Soldat und dessen Übersetzer in die Hütte gesetzt. Soll er die Gefangenen verraten und seine Ermordung durch Widerstandskämpfer riskieren oder sie verstecken und damit sein Dorf ins Visier der Japaner bringen? Ma Dasan ist wohl ein guter Mensch, aber kein Held, und nun wartet plötzlich diese fatale moralische Zwickmühle in seinem Schuppen. Mit seiner quasi patentierten rauen Maskulinität ist der Darsteller Jiang Wen prädestiniert für die Rolle dieses kleinen Mannes im großen Krieg. Sie bildet zudem eine Brücke zu seinem Durchbruch in Rotes Kornfeld, der im Vergleich zur grotesken Kriegssatire Devils on the Doorstep in erster Linie durch seinen feierlichen Ernst auffällt.

Sieben Jahre Regie-Pause
Große Popularität schlug Jiang Wen spätestens seit der Serie A Native of Beijing in New York entgegen, eine der ersten chinesischen TV-Produktionen, die komplett im Ausland gedreht wurden. Die Geschichte eines Künstlers (Jiang), der sich nach der Einwanderung als Tellerwäscher und Fabrikarbeiter durchschlägt, um zum erfolgreichen Geschäftsmann aufzusteigen, wurde 1992 ausgestrahlt und verfolgt mit dem Umweg über die Fremde die Verheißungen des damaligen chinesischen Wirtschaftswunders. Immunität brachte Jiang Wen die Beliebtheit nicht. Devils on the Doorstep wurde vor seiner Premiere in Cannes nicht der zuständigen Zensurbehörde vorgelegt. Das ist jedenfalls der offizielle Grund, warum der empathisch dargestellte japanische Soldat und sein unheroischer chinesischer Wärter es nie in die Kinos der Volksrepublik geschafft haben.

Sieben Jahre dauerte es, bis Jiang Wen mit The Sun Also Rises seinen nächsten Film inszenierte, manche Beobachter erklären die Pause mit einem inoffiziellen Regie-Verbot. Seine Rückkehr, eine bildgewaltige Assoziationskette in vier Episoden, endet mit dem Optimismus des ideologischen Aufbruchs in den 50er Jahren und beginnt beim Wahnsinn, der später von China Besitz ergriff. Der Wahnsinn ist ganz plastisch zu verstehen in Gestalt einer Frau, die alle Vernunft fahren lässt. Getrieben von bruchstückhaften Erinnerungen des abwesenden Vaters (Ein Vergewaltiger? Ein Gefallener? Beides?) bringt sie ihren Sohn durch ihre turnerischen Eskapaden an den Rand der Verzweiflung. Festzulegen ist der Bilderschwall The Sun Also Rises nur selten, etwa in der zweiten Episode. Wie in In the Heat of the Sun schlendert eine Figur in ein Screening von Das Rote Frauenbataillon, eine während der Kulturrevolution entstandene Modelloper . Kein Junge ist es diesmal, sondern ein Lehrer. Eine gewisse Sehnsucht nach der farbenfrohen Propaganda, ihren vertrauten Klängen und zackigen Ballett-Schritten, kommt auch diesmal auf. Nur bricht wenige Minuten später die Hölle los, als der Lehrer von einem gesichtslosen Mob gejagt wird. So viel Erinnerung muss sein.

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